lunedì 13 gennaio 2014

Die ganze Zeit erzählen, immer
NACHRUF PETER KURZECK

Peter Kurzeck war ein Chronist, ein Zauberer und ein großer Autor unserer Gegenwart. In seiner Literatur öffnen sich Raum und Zeit auf wundersamste Weise. VON 
Peter Kurzeck
Peter Kurzeck (Foto undatiert)  |  © Erika Schmied/Stroemfeld Verlag

Wer in seinem Leben jemals einen Peter Kurzeck-Erkenntnismoment hatte, darf sich glücklich schätzen, denn ab diesem Augenblick beginnt die Welt sich zu verwandeln und einen ganz eigenen Tonfall anzunehmen, den von Peter Kurzeck, diesen melodiösen, leicht singenden Tonfall, bei dem sich die Stimme am Satzende hebt, um zu signalisieren, dass es noch weitergeht, dass es immer weitergeht mit dem Anschauen, Erinnern, Beschreiben. 
Ich brauche nur meine i-Tunes-Bibliothek zu öffnen, um Peter Kurzeck zuhören zu können, da liegen die von ihm gesprochenen Hörbücher, nein: Hörromane, angefangen bei Stuhl, Tisch, Lampe über Ein Sommer, der bleibtMein wildes Herz, den zehn Stunden von Oktober und wer wir selbst sind, bis hin zuUnerwartet Marseille, dem letzten Hörbuch, das Peter Kurzeck eingesprochen hat, frei eingesprochen, ohne Skript, druckreif.
Peter Kurzeck ist tot, gestorben im Alter von 70 Jahren infolge mehrerer Schlaganfälle. Noch vor wenigen Wochen rief mich Harry Oberländer, der Leiter des Hessischen Literaturforums und ein Weggefährte Kurzecks seit den siebziger Jahren, an und sagte, der Peter liege im Krankenhaus, aber er sei optimistisch. Und ob ich nicht eine Lesung mit ihm moderieren wolle, im kommenden Februar. Der Tod von Peter Kurzeck ist das Schlimmste, was der deutschsprachigen Literatur seit vielen Jahren passiert ist.
Als ich mich zum ersten Mal mit Peter Kurzeck verabredet habe, kam er zu spät. Er hatte das sogar angekündigt. Nicht mir persönlich am Telefon, sondern in seinem seinerzeit aktuellen Roman Als Gast. Da steht auch, dass er jedes Mal, wenn er zu spät komme, beteuere, normalerweise wäre er ja pünktlich gewesen, wenn nicht... 
Seinerzeit war mir noch nicht ganz bewusst, dass dieses Zuspätkommen und dieses "Wenn nicht..." eine geradezu poetologische Dimension hatten, dass die zehnminütige Verspätung eine so obligatorische wie notwendige, eine so selbstverständliche wie metaphysische gewesen ist. Denn die Zeit, die vorbeirasende, vernichtende Zeit ist es schließlich auch, gegen die Peter Kurzeck angeschrieben hat.
Die zweite Geburtsstunde
"Ich war", sagte Peter Kurzeck damals, an jenem warmen Frühlingstag, als wir auf der Fressgass zusammen einen Espresso tranken, bestimmt nicht den ersten und auch nicht den letzten seines Tages, wie wir auch aus den Büchern wissen; "ich war", sagte Peter Kurzeck also damals, "längere Zeit nicht in Frankfurt. Da brauche ich auch für die gewöhnlichen Wege etwas länger." Weil er nämlich alles genau anschauen muss, immer wieder aufs Neue anschauen muss und vor allem nachgucken muss, ob noch alles da ist. Könnte ja etwas abgeschafft, abgerissen, weggebracht, renoviert worden sein. Weg für immer, und dann hätte er es ja aufschreiben müssen, damit es bleibt, für ihn, für uns, für den Roman. Eine Lebensaufgabe.
Kurzeck wurde 1943 in Böhmen geboren; 1946 kam er mit seiner Mutter und seiner Schwester als Flüchtlingskind nach Staufenberg in Oberhessen. 1977 zog er nach Frankfurt am Main; seit den frühen neunziger Jahren lebte er überwiegend im südfranzösischen Uzès. Es gibt mehrere Entscheidungsmomente im Leben von Peter Kurzeck, und er konnte sie exakt benennen: Im August 1971 beschloss er, seine Anstellung zu kündigen und in Zukunft als freier Schriftsteller zu arbeiten. Und im März 1979 hörte er mit dem Trinken auf. 
Vielleicht war das die zweite Geburtsstunde von Peter Kurzeck, dem man anhand seines Werks bei der Schriftstellerwerdung zugucken kann: Sein 1979 erschienenes Debüt Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst trug noch deutliche Züge des Experimentellen, des Ausprobierens, des Sichfindens. Schon in dem 2007 in einer erweiterten Neuauflage erschienenen Roman Kein Frühling (ursprünglich 1987) zeichnete sich ab, dass Peter Kurzeck sich selbst und die eigene Erinnerung, das eigene Leben zum Gegenstand eines literarischen Projekts von Proust’scher Dimension machen würde.
Das alte Jahrhundert heißt der auf zwölf Bände angelegte Romanzyklus, den Kurzeck 1997 mit Übers Eis begann und der 2011 mit dem rund 1.000 Seiten starken Vorabend seinen, wie man glauben durfte, vorläufigen Höhepunkt fand. Heute wissen wir, dass der Vorabend, der fünfte Band, ein Endpunkt ist.
Peter Kurzeck, das sind drei Schriftsteller. Kurzeck, der Chronist. Kurzeck, der Zauberer. Und Kurzeck, der Gegenwartsautor.
Der Chronist: Man findet kaum einen Autor, der so präzise und besessen, so plastisch wie detailreich ein Bild der Epoche entwirft, in der seine Romane spielen. Das gilt für das Frankfurt der frühen achtziger Jahre, in der der Zyklus Das alte Jahrhundert seine erzählerische Basis hat; eine Basis, von der aus der Erzähler Peter Kurzeck ab- und ausschweift in Zeit und Raum. In den Dingen, in den Orten, in den Menschen erspürt man hier den Geist der jeweiligen Ära: Die Unruhe und die alternativen Milieus der Post-Spontibewegung, politisch und gesellschaftlich verdächtig, schräg angesehen. Vor allem aber die Nachkriegszeit als Sehrnahaufnahme.
Die Ausgangssituation des Vorabends kennt man als Kurzeck-Leser: Frankfurt am Main im Jahr 1982. Der Erzähler fährt mit seiner Frau Sibylle und der dreijährigen Tochter Carina von Frankfurt-Bockenheim nach Frankfurt-Eschersheim zu Jürgen und Pascale, den besten Freunden. Es ist das letzte oder vorletzte gemeinsame Wochenende; Jürgen und Pascale wollen in Frankreich gemeinsam ein Restaurant eröffnen. Der Schriftsteller-Erzähler arbeitet gerade an seinem zweiten Buch, das Manuskript hat er bei sich; er ist erschöpft, ausgelaugt. Man sitzt am Eschersheimer Küchentisch und er beginnt zu erzählen.
Festhalten, was verschwindet
Von diesem Augenblick an öffnen sich Zeit und Raum auf eine wundersame und wundervolle Weise: "Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!", lautet das demVorabend vorangestellte Motto, und genau das geschieht. Peter Kurzeck führt uns nach Lollar und nach Staufenberg, in die fünfziger, sechziger, siebziger Jahre. Die Hauptfigur des ersten Teils, wenn man sie denn so nennen darf, ist der Schwager des Erzählers, eine ganz klassische Nachkriegsfigur auf der einen Seite und dann aber doch nicht. Denn er kommt nicht zurecht in der neuen Zeit, das macht ihn sympathisch. Schafft sich im Buderuswerk in Lollar den Buckel krumm, lässt sich in seiner Freizeit noch von anderen für Gefälligkeiten ausnutzen, tüftelt in seiner Werkstatt vor sich hin – und ist ein bescheidener und genügsamer Mensch geblieben.
Zur Chronistenpflicht des Peter Kurzeck gehört auch das Allerfurchtbarste: Festzuhalten, was verschwindet, was vernichtet wird. In unserem allgemeinen Bewusstsein und in der offiziellen Geschichtsschreibung erscheinen die Fünfziger als Aufbaujahre. Dass der so genannte Aufbau und der Fortschritt der Wirtschaftswunderjahre allerdings nur durch Zerstörung möglich waren – das bekommen wir im Vorabend auf vielfache Weise vorgeführt: Die gewachsenen Dörfer werden geordnet und von Neubaugebieten eingekreist, die Bäche begradigt, die alten Witwenhäuschen abgerissen, die Straßen so geebnet, dass man überall "im vierten Gang durchfahren" kann, eine Formulierung aus dem RomanOktober und wer wir selbst sind, an die ich nun jedes Mal denken muss, wenn ich mit dem Auto über Land fahre. Was Vorabend erzählt, in immer neuen Anläufen und in immer detaillierter ausgemalten, scheinbar anekdotischen Wendungen, ist in Wahrheit ein Lebensthema: Die Zurichtung eines Landes in Mentalität und Landschaft hin zu einem nach funktionalen und merkantilen Gesichtspunkten straff durchorganisierten System. Eine Komplettneuerfindung binnen weniger Jahrzehnte.
Schärfer als Kurzeck kann man die Verluste nicht beklagen: "Ein Krieg, sagte ich. Seit zehn, fünfzehn Jahren Krieg. Oder vorher schon und man hat es nicht gleich gemerkt. Einseitig. Ein Krieg, den die Igel nicht wollen. Verstehen das nicht. Ein Ausrottungs- und Vernichtungskrieg." Die Igel. Ihnen und der Zerstörung ihres Lebensraumes sind allein 50, 60 Seiten gewidmet. Grandiose Seiten, die so anrührend und schmerzhaft zugleich sind; die von unserer Ignoranz gegenüber der Kreatürlichkeit erzählen.
Peter Kurzeck war durchaus ein Schriftsteller mit Humor. Allerdings einer mit einem so bitteren wie hintergründigen Humor. Die komischen Seiten einer Nation, die sich für Fortschritt und Wohlstand aufrüstet, sind so offensichtlich, dass man sie nur zu beschreiben braucht, um sie zu decouvrieren. Die Dorfmenschen, die immer ihre Milch auf der Kellertreppe gekühlt haben, bis der Kühlschrank in die Küche musste, mit dem man dann nicht zurechtkam. Und selbstverständlich die Kühltruhe in den Keller. Um die zu befüllen, sucht man sich die Sonderangebote aus den diversen Werbeprospekten heraus, steigt dann in sein Automobil, fährt über den Gießener Ring, klappert die Supermärkte ab, kauft billige Schnitzel und Rippchen, stopft sie in die Kühltruhe, die aber irgendwann auch einmal wieder geleert werden muss, weil es ja neue Sonderangebote gibt, die es wahrzunehmen gilt et cetera. Ein Leben nach dem Verfallsdatum: "Modern. Fortschritt. Die neue Zeit. Ständig Discountpreise." So werden aus Menschen Verbraucher.
Kurzeck, der Zauberer: Er hat einen Tonfall in die deutschsprachige Literatur hineingebracht, den es so noch nicht gab. Scheinbar so einfach und auf so perfide Weise eingängig, dass man nach einigen Stunden Kurzeck-Lektüre beginnt, mit Kurzeck zu denken, zu sprechen, die Welt anzuschauen. Kann man sich nicht entziehen. Muss man hineintauchen und kommt nicht mehr heraus. Muss aufpassen, dass man nicht selbst. Versinkt tief im "Vorabend", Stunden, Tage, und geht anschließend durch die Welt und kann nur noch Kurzeck denken. Macht süchtig und glücklich. Die Welt im Kurzeck-Tonfall, kann man sich etwas Schöneres wünschen?
Genau das ist Peter Kurzecks Sprache: Schön. Es ist nicht nur ein Inventarisieren, dessen sich der Vorabend annimmt, und schon gar nicht ein nostalgisches Unternehmen. Es ist ein permanenter Transformationsprozess, der bei ihm stattfindet. Die Zauberformel, im Bösen wie im Guten, lautet: "Eben noch – und nun schon...": Eben noch da, jetzt schon verschwunden. Aber auch: Eben noch Winter, jetzt schon Frühling. Ein Ende und ein Neubeginn in beinahe jedem Satz. Es ist das Paradoxon des Kurzeck’schen Schreibens: Nur, weil alles permanent verschwindet und Peter Kurzeck gegen das Verschwinden anschreiben muss, ist es möglich, Literatur daraus zu machen. Das ist die innere Notwendigkeit, von der diese Prosa angetrieben ist.
Der Gegenwartsautor: Das Internet, der 11. September, der Genderdiskurs, die Patchworkfamilie vielleicht schon, nur heißt sie nicht so, die Wiedervereinigung. All das kommt bei Peter Kurzeck nicht vor. Wie man deswegen auf die Idee kommen kann, Kurzecks Romane hätten mit unserer Gegenwart nichts zu tun, ist unerklärlich. Kurzeck führt die Literatur ins Grundsätzliche zurück, weg von den Diskursen, die nicht als relevantes Phänomen, sondern als Krankheitssymptom betrachtet werden: Fernsehen, Medien, Verkehr, Reizüberflutung, Überangebot und Überinformation. Daraus eine Feier ferner oder gar besserer Zeiten lesen zu wollen, ist geradezu grotesk.
Was gibt es Brutaleres, als den Menschen vorzuführen, dass ihr Dasein aus einem permanenten Vernichtungs- und Selbstvernichtungsakt besteht? Was könnte desillusionierender sein als die Erkenntnis, dass wir als Kollektiv wider besseren Wissens bereit sind, dem Fortschritt unseren Verstand zu opfern? Wie weitreichend und tiefgreifend und grundsätzlich muss eine Einsicht in immer wiederkehrende Verhaltensmuster noch sein, um als gegenwärtig anerkannt zu werden? Peter Kurzeck war möglicherweise so brutal und so radikal wie kein anderer Schriftsteller: Er hat uns eingewickelt und eingelullt. Er hat uns an der Hand genommen und uns die Welt auf die wunderbarste, funkelndste, mannigfaltigste Weise gezeigt. Und hat uns währenddessen permanent zu verstehen gegeben, dass all das in jedem Augenblick gefährdet, wenn nicht gar bereits verloren ist.
Keiner dieser drei Schriftsteller ist ohne den anderen denkbar. Der Zauberer braucht die opulenten Möglichkeiten des Chronisten. Der Chronist wäre ohne den Zauberer ein bloßer Archivar. Der Gegenwartsautor wäre ohne das Tiefengedächtnis des manischen Erinnerers wertlos. In der Vereinigung dieser drei Schriftsteller war Peter Kurzeck ein einmaliger Autor, ein Solitär.
Seit 2007, seit dem Erscheinen von Ein Sommer, der bleibt, hat Kurzeck endlich, endlich, endlich eine überregionale Aufmerksamkeit gefunden. Fast ist er in manchen Kreisen zu einer Art von Kultautor geworden. Seinem Freund und Verleger K.D. Wolff ist er niemals untreu geworden, im Gegenteil: Der Stroemfeld Verlag und dessen Verleger sind auf ganz natürliche Weise Teil des literarischen Kosmos von Peter Kurzeck geworden. Den angeblich bedeutendsten Literaturpreis in Deutschland, den Büchner-Preis, hat Peter Kurzeck nie bekommen. Wenn es einmal einen Anlass gegeben hätte, den Preis posthum zu verleihen, dann jetzt.
Die i-Tunes-Bibliothek noch einmal geöffnet und Peter Kurzeck eingeschaltet,Oktober und wer wir selbst sind: "Nachts hört man die Züge fahren. Oktober und dass wir jetzt hier sind, sagst du dir. Zum Verwundern. Und mit einem jähen schmerzhaften Stich (das spürst du am Herz): Dass nichts bleibt und wir auch nicht." Der schmerzhafte Stich – jetzt ist er in unseren Herzen.
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-11/peter-kurzeck-nachruf/seite-2

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